Ein Baby mit süßer Mütze liegt im Bett und weint
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Hilfe, ich habe ein Schreikind!

Wenn Babys exzessiv schreien, so liegt eine frühkindliche Regulationsstörung vor, die darauf hinweist, dass das Kind noch Schwierigkeiten hat, sich selbst zu beruhigen. Die Ursachen sind komplex, und die Störung kann bei Eltern und Kind zu chronischen Erschöpfungszuständen führen und die Beziehung zwischen ihnen erheblich belasten. Wichtig ist das rechtzeitige Aufsuchen von Hilfe, damit sich die Problematik nicht verfestigt.

Factbox – Schreikind

Schreikind:  eine Bezeichnung für eine frühkindliche Regulationsstörung, exzessives Schreien, unspezifisches Schreien

Definition: Schreiattacken durchschnittlich mehr als drei Stunden/Tag, an mindestens drei Tagen der Woche über mindestens drei Wochen 

Ursachen: Faktoren, die beim Kind selbst liegen, psychosoziale Belastungen der Bezugsperson, dynamische Prozesse der Interaktion und Beziehung, soziale Gegebenheiten

Symptome: anfallsartig auftretende Unruhe und Schreiepisoden, kein Ansprechen auf Beruhigungshilfen, kurze Tagschlafzeiten mit ausgeprägten Einschlafproblemen, verminderter Gesamtschlaf, gehäuftes Auftreten des Schreiens in den Abendstunden, eventuell: geblähter Bauch, hochrote Hautfarbe, Muskelspannung

Therapie: ambulant (z.B. Schreiambulanzen), teilstationär, vollstationär. Ziel: Entlastung, (Wieder)Herstellung eines positiven Eltern-Kind-Beziehungssystems

Warum schreien Babys?

Dass Babys schreien, kommt immer wieder vor und ist Ausdruck einer normalen Reaktion auf die Herausforderungen der komplexen Anpassungs- und Entwicklungsprozesse, die so ein kleiner Mensch bewältigen muss. Schreien gehört zu den wichtigsten Kommunikationsmitteln eines Säuglings und zeigt nicht immer „Not“ wie Hunger oder Schmerz an. Das Baby löst sich auch schrittweise aus der symbiotischen Beziehung zur Mutter, beginnt, eine eigenständige Regulation körperlicher, emotionaler und sozialer Funktionen zu entwickeln, und passt sich dabei in seinem Verhalten den Umweltbedingungen an, die es vorfindet. Das Kind lernt so nach und nach, sich in den verschiedenen Entwicklungsbereichen selbst zu regulieren – etwa im Schlaf-Wach-Rhythmus oder in der Fähigkeit, sich selbst zu beruhigen. Im Rahmen dieser Prozesse kann es kurzfristige „Krisen“ geben, auf die das Kind eben auch oft mit Schreien reagiert. Heute spricht man in diesem Zusammenhang von frühkindlichen Regulationsstörungen, und Experten unterscheiden bei Säuglingen drei Arten von Schreien:

– physiologisches Schreien: Das Kind schreit zum Beispiel bei Hunger, nasser Windel oder Bedürfnis nach Zuwendung.

– pathologisches Schreien: das Kind schreit aufgrund organischer Ursachen wie etwa einer akuten Erkrankung.

– unspezifisches Schreien: das Kind schreit ohne erkennbare Ursache. Hintergrund sind die oben beschriebenen Entwicklungsprozesse, die bei allen Säuglingen auftreten. Das unspezifische Schreien beginnt in der zweiten Lebenswoche, erreicht den Höhepunkt in der sechsten Lebenswoche und flacht dann bis zum dritten Lebensmonat wieder ab. (Früher sprach man in diesem Zusammenhang von „Dreimonatskoliken“, da man annahm, dass der Grund für die Schreiattacken Krämpfe und Blähungen sind. Das ist heute widerlegt. Verdauungsstörungen sind nur selten Ursache des exzessiven Schreiens.)

Etwa 15 bis 25 Prozent aller Säuglinge und Kleinkinder zeigen in ihren ersten Lebensmonaten und -jahren derartige Auffälligkeiten im Verhalten. Das kann für das gesamte Familiensystem sehr belastend sein, es gibt aber Möglichkeiten gegenzusteuern.

Ursachen für Schreiattacken

Babys brauchen ein konstantes und sicheres Gegenüber, um Spannungen herunterregulieren zu können oder einen guten Schlafrhythmus und inneres Gleichgewicht zu finden. Wenn es zu Schreiattacken kommt, so sollte die Bezugsperson angemessen darauf reagieren, also etwa das Kind pflegen und versorgen oder Blick- und Hautkontakt suchen und halten. So kann eine positive Feedback-Schleife entstehen: Das Kind beruhigt sich, die Bezugsperson beruhigt sich ebenfalls und kann ein elterliches Kompetenzgefühl entwickeln, das in späteren Krisensituationen hilfreich ist. Allerdings kann diese Synchronisation mit der Bezugsperson bereits durch geringfügige Anlässe gestört werden, sodass das Gleichgewicht kippt und es zu den beschriebenen Verhaltensproblemen kommt. Ursache dafür sind oft psychosoziale Belastungen, unter denen die Bezugsperson des Kindes steht. Dazu zählen etwa Stress vor und während der Schwangerschaft, schwierige Umstände bei der Geburt, Partnerschafts-, Familien- oder eigene psychische Probleme oder Alltagsstress.

Das alles heißt aber nicht, dass das Schreien eines Kindes auf „Fehler“ bzw. das „Versagen“ der Eltern zurückzuführen ist oder dass Mutter oder Vater dafür verantwortlich sind. Hinzu kommen nämlich noch viele mitbeeinflussende Faktoren, die auch beim Kind selbst, in dynamischen Prozessen der Interaktion sowie in sozialen Gegebenheiten liegen können, wobei meist ein komplexes Zusammenspiel all diese Faktoren gegeben ist. Wichtig ist in jedem Fall, dass man in einer solchen Situation rechtzeitig fachkompetente Hilfe aufsucht – etwa beim niedergelassenen Kinderarzt oder in einer Schreiambulanz -, denn das kann oft schon in relativ kurzer Zeit zu Entlastung und einer Verbesserung der Problematik führen.

Symptome des exzessiven Schreiens

Das Baby wirkt überreizt, quengelig und unruhig. Die Schreiattacken treten anfallsartig und ohne erkennbaren Grund auf. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von „unstillbarem Schreien“, da auch die Beruhigungsversuche der Bezugsperson keinen Erfolg bringen.

Leitsymptome des exzessiven Schreiens sind:

  • anfallsartig auftretende Unruhe und Schreiepisoden
  • kein Ansprechen auf Beruhigungshilfen
  • kurze Tagschlafzeiten mit ausgeprägten Einschlafproblemen
  • verminderter Gesamtschlaf
  • gehäuftes Auftreten des Schreiens in den Abendstunden
  • eventuell: geblähter Bauch, hochrote Hautfarbe, Muskelspannung

Nach einer alten Formel gibt es eine Faustformel für exzessives Schreien. Es liegt vor, wenn das Kind durchschnittlich mehr als drei Stunden pro Tag, an mindestens drei Tagen der Woche über mindestens drei Wochen schreit.

Auswirkungen exzessiven Schreiens auf das Familiensystem

Wenn es den Eltern nicht gelingt, das Schreien ihres Kindes mit Beruhigungsversuchen zu regulieren, geraten sie selbst zunehmend unter Druck. Viele betroffene Mütter und Väter entwickeln dann Gefühle der Hilflosigkeit, Ohnmacht, aber auch Wut und Aggression. Die Problematik kann sich relativ schnell auf andere Bereiche ausweiten: Es kommt zum Beispiel auch zu Störungen des Schlaf-Wach-Rhythmus und Fütterproblemen. So kann ein Teufelskreis entstehen, der auf beiden Seiten zu extremem psychischen Stress und Erschöpfung führt und im schlimmsten Fall auch dazu, dass Eltern Aggressionen gegenüber dem Kind entwickeln.

Diagnostik bei exzessivem Schreien

Frühkindliche Regulationsstörungen sind sehr komplex, und die Diagnostik bei einem „Schreikind“ muss daher sehr differenziert sein. Zunächst müssen organische Faktoren wie etwa Infektionen, Verletzungen, Störungen im Magen-Darm-Trakt, allergische und neurologische Erkrankungen oder ein etwaiges Schlaf-Apnoe-Syndrom ausgeschlossen werden. In der Folge sind anamnestische Gespräche mit den Eltern wichtig. Dabei werden kindbezogene Faktoren, Interaktions- und Beziehungsfaktoren, elternbezogene Faktoren sowie Paar- und Familienfaktoren beachtet, die oft in einem komplexen Zusammenspiel aufeinander einwirken.

Therapie bei exzessivem Schreien

Von entscheidender Bedeutung bei Überforderung durch das Schreien des Babys ist das rechtzeitige Aufsuchen von Hilfe, denn Versuche, das Problem alleine zu regeln, verstärken oft und gerade dann, wenn die Eltern schon Gefühle des Kompetenzverlusts und der Ohnmacht haben, den Teufelskreis. Erster Ansprechpartner dafür ist der Kinderarzt. Er oder sie kann die somatische und psychosoziale Befundlage klären und den Eltern beratend zur Seite stehen oder sie auf weitere Behandlungsmöglichkeiten verweisen. Grundsätzlich stehen Hilfe und Therapie ambulant, teilstationär und vollstationär zur Verfügung:

– Ambulante Beratung und Therapie: Sie findet meist in so genannten Schreiambulanzen statt, wo je nach Bedarf in kürzeren oder längeren Zeitabständen regelmäßige Elterngespräche und interaktionsorientierte Sitzungen mit dem Kind erfolgen können. Ziel dieser Intervention ist nicht nur die Verbesserung der Regulationsstörung, sondern auch die Entlastung der Eltern und die (Wieder)Herstellung eines positiven Eltern-Kind-Beziehungssystems.

– Teilstationäre Therapie: Sie ist dann angezeigt, wenn die Eltern schon unter Erschöpfung leiden und es ihnen nicht mehr gelingt, die etwa in der Schreiambulanz getroffenen Vereinbarungen zu Hause umzusetzen. Dabei wird nicht nur das Kind, sondern auch die Bezugsperson aufgenommen, und die Eltern werden von Experten direkt im Umgang mit störungsanfälligen Situationen unterstützt. So können unter anderem Fehlwahrnehmungen abgebaut und sichere und adäquate Verhaltensweisen für schwierige Situationen aufgebaut werden.

– Vollstationäre Therapie: Sie kommt dann in Frage, wenn das Bezugssystem zwischen Eltern und Kind bereits so gestört ist, dass das physische und psychische Wohl des Kindes gefährdet ist, oder wenn ambulante Beratungen fehlgeschlagen sind und die Bezugspersonen massiv erschöpft sind. In der Klinik können die Eltern kurzfristig entlastet werden, und auch das Kind profitiert von den strukturierten entspannten Rahmenbedingungen. Häufig bilden sich dadurch die anfallsartigen Schreiattacken zurück. In weiterer Folge der Therapie können relevante Alltagssituationen besprochen und neue Verhaltensmuster eingeübt werden. Wichtig ist auch, dass die Bezugsperson schrittweise in ihrem Kompetenzgefühl bestärkt wird und – auch durch positive Resonanz – erfährt, dass ein selbstständiger und sicherer Umgang mit dem eigenen Kind wieder möglich ist.

  • Autor

    Mag. Gabriele Vasak

    Medizinjournalistin

    Gabriele Vasak ist seit 2019 freie Journalistin in der DocFinder-Redaktion. Ihr besonderes Interesse liegt schon lange im Bereich der medizinischen Contentproduktion. Im Jahr 2006 wurde sie mit dem Medienpreis für Gesundheitsförderung & Prävention des Fonds Gesundes Österreich ausgezeichnet, und im Jahr 2010 erhielt sie den Pressepreis der Österreichischen Gesellschaft für Neurologie.

Langer D.: Regulationsstörungen im Säuglings- und Kleinkindalter (Schreikinder)
https://www.leading-medicine-guide.at/erkrankungen/psyche/regulationsstoerungen, Abruf Juli 2021

Papoušek, M. Et al.: Vom „Schreikind“ zur neuen Diagnose „frühkindliche Regulationsstörung“.
https://link.springer.com/article/10.1007%2Fs00112-009-1990-1, Abruf Juli 2021

Claßen M. Et al: „Ist mein Kind ein Schreibaby?“
https://www.dgkj.de/eltern/dgkj-elterninformationen/elterninfo-schreibaby, Abruf Juli 2021

https://medlexi.de/Regulationsstörungen, Abruf Juli 2021

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